Mit sechs Punkten werden Blinde lesend

Soziales - Vor 200 Jahren wurde Louis Braille, der geniale Erfinder der Blindenschrift, geboren


Mit der „Tour de Braille“ möchte der Blinden- und Sehbehinderten- verband (DBSV) auf die Erfindung der Blindenschrift im Jahr 1825 aufmerksam machen.



Von Claudia Pirsch

GRANSEE In einem beeindruckenden Tempo flogen die Finger Christine Langers über das durchlöcherte Papier. Sie hatte sich für diesen Anlass Bastian Sicks „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ auserwählt. Die Kinder des GRANSEEr Hortes „Hufeisenkids“ konnten sich anfänglich kaum auf den Stühlen halten, denn auch sie waren neugierig darauf, wie jemand ohne Augenlicht durch bloßes ertasten einer Unmenge von Punkten eine ganze Geschichte vorlesen kann.

Irina Schulz, Leiterin der BIBLIOTHEK, hatte dazu angeregt, mit den Hortkindern, die daran interessiert wären, zur Veranstaltung des Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) im Seniorenclub zu gehen. „Es freut uns besonders, dass heute die Schüler mit dabei waren“, sagte Bernd Schade, Vorsitzender der DBSV Bezirksgruppe GRANSEE. „So konnten sie sehen, das auch blinde Menschen ganz ’normal’ sind.“

Eingeladen hatte die Bezirksgruppe zu dieser Blindenschriftlesung im Rahmen der Deutschlandweiten „Tour de Braille“. Mit der Veranstaltungsreihe des DBSV soll an den Erfinder der Blindenschrift, Louis Braille, erinnert werden, der mit 16 Jahren das Sechs-Punkte-System entwickelt hatte. Er wurde am 4. Januar 1809 in Coupvray bei Paris geboren und erblindete als Dreijähriger bei einem Unfall mit Sattlerschere seines Vaters. Mit dreizehn Jahren lernte er ein Schriftsystem kennen, an dem der französische Artilleriehauptmann Charles Barbier seit 1815 arbeitete. Es bestand aus zwölf Punkten und sollte den Soldaten eine Nachrichtenübermittlung auch bei völliger Dunkelheit ermöglichen. Braille erkannte die Potentiale, die sich daraus für blinde Menschen entwickeln könnten. Er verfeinerte das System und konnte schließlich im Alter von 16 Jahren seine Blindenschrift präsentieren, die es Menschen ohne Augenlicht mit Hilfe von sechs erhabenen, also hervorstehenden Punkten ermöglichte, Bücher zu lesen.

Die 63 Kombinationsmöglichkeiten der sechs Punkte stellen das Alphabet, die Zahlen 0-9 und alle mathematischen Zeichen nach. Auch zuvor gab es schon Möglichkeiten mit Hilfe von Reliefdrucken Schrift „sichtbar“ zu machen, doch das war eine sehr mühselige Angelegenheit. Die Braille-Schrift verzeichnete deutlich bessere Lernerfolge bei den Schülern des Blindeninstituts, an dem Louis Braille mittlerweile als Hilfslehrer arbeitete. Doch erst 1850 wurde die Braille-Schrift in Frankreich offiziell anerkannt. Im deutschsprachigen Raum wurde die Schrift 1879 eingeführt.

Drei dicke Bände umfasst Bastian Sicks Buch in der Blindenschrift, die deutlich dickeres Papier als die „Schwarzschrift“ benötigt und auch deutlich mehr Platz pro Buchstaben. Nicht ganz einig waren sich Christine Langer und Bernd Schade, ob der aktuelle Duden in Braille-Schrift 20 oder 24 Bände umfasst. Doch die Schwierigkeiten die sich aus diesen Buchumfängen ergeben sind deutlich. Nicht zuletzt deshalb greifen immer mehr Menschen, die erst spät in ihrem Leben erblinden, zu den technischen Errungenschaften der Neuzeit. „Vielen ist es zu mühevoll die Braille-Schrift zu erlernen oder sie glauben nicht, dass sie diese jemals wirklich ertasten können“, erzählt Bernd Schade. „Diese Entwicklung gefällt mir eigentlich nicht so gut, denn auch für uns Blinde ist das Lesen wichtig.“

Bettina Thieme hat zum Lesen eine ganz ähnliche Einstellung. „Besser schwer als zu leicht“, sagte sie, nachdem sie aus der Kinderland-Zeitung einen Artikel über Afrikanische Wildhunde vorgelesen hatte. Die Aufregung war ihr anzumerken und gelegentlich stolperte sie über die lateinischen Bezeichnungen der Tiere. Doch auch ihre Leistung beeindruckte die Gäste im Seniorenclub.

Gerald Soost las aus dem Fernsehprogramm vor, was einige Ausrufe wie „Ach, das kommt heute?“ hervorrief. Die Hortkinder stürzten sich dann gemeinsam mit Gerald Soost und Bettina Thieme auf die Punktschreibmaschine. Alle wollten ihren Namen in der Braille-Schrift sehen und zuschauen, wie die Löcher in das Papier gedrückt werden. Die sechs Holztasten stehen für die sechs Punkte des Systems und je nach Buchstaben werden die entsprechenden Tasten gedrückt. Die Kinder fühlten begeistert ihre Namen und freuten sich über das Braille-Alphabet, das sie alle als Anschauungsmaterial mitnehmen durften. „Doch als Sehender die Blindenschrift zu erlernen ist nicht einfach, denn man verlässt sich zu sehr auf seine Augen“, sagte Bernd Schade.


Märkische Allgemeine Zeitung
8. Mai 2009

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